Der Tante-Emma-Laden kommt ins Dorf zurück
In Frankreich müssen 30 Prozent der Bevölkerung für Einkäufe ins Auto steigen – ein Startup aus Lyon will das ändern.
Nina Belz, La Bauche, aus dem NZZ-E-Paper vom 05.01.2021

Ins Schloss von La Bauche ist mitten in der Corona-Pandemie neues Leben eingezogen. Seit dem Frühsommer gibt es in den renovierten Räumen des Hauses aus dem 18. Jahrhundert nicht nur frische Lebensmittel aus der Region, Brot und die wichtigsten Grundnahrungsmittel zu kaufen. Auch Postgeschäfte können hier erledigt oder Lotto gespielt werden. Zudem kommen regelmässig eine Kosmetikerin und ein Osteopath vorbei, die ihre Dienste in einem kleinen Hinterzimmer anbieten. Für die rund 600 Einwohner der Gemeinde in der Savoie ist das ein grundsätzlicher Wandel. «Bisher mussten wir mit dem Auto 10 bis 15 Kilometer zurücklegen, um Einkäufe zu erledigen», sagt die Bürgermeisterin Evelyne Labrude. «Heute geht das zu Fuss.»
Fokus auf regionale Produkte
Gemeinden wie La Bauche haben Virginie Hils vor rund sechs Jahren auf ihre Geschäftsidee gebracht. Die Marketingspezialistin, die bis dahin in der Lebensmittelbranche tätig war, hatte dabei eine Zahl im Kopf: Das nationale Statistikamt Insee hatte bereits zehn Jahre zuvor festgehalten, dass eine von zwei ländlichen Gemeinden in Frankreich keinen Laden mehr hat. Laut der Studie müssen rund 30% der Franzosen ins Auto steigen und mehrere Kilometer zurücklegen, um Dinge des täglichen Bedarfs zu besorgen – und die Tendenz steigt.
Dem wollte die damals 37-Jährige entgegenhalten, als sie sich 2014 an einem Ideenwettbewerb eines Startup-Inkubators in Lyon beteiligte. Ein Jahr später war Comptoir de Campagne gegründet, und bald darauf kam Sylviane Barcet als zweite Geschäftsführerin dazu. Die 58-jährige Informatikingenieurin stammt aus der ländlich geprägten Savoie und hat das Verschwinden von Dienstleistungen und Läden in vielen kleinen Orten mit Sorge beobachtet.
Seit 2016 haben die beiden Unternehmerinnen zwei Finanzierungsrunden über insgesamt rund 4,5 Mio. € abgeschlossen und elf Läden in der Region Lyon eröffnet. Sie sollen den Bewohnern in ländlichen Gemeinden nicht nur lange Autofahrten ersparen, wenn sie einen Brief verschicken wollen oder wenn einmal die Milch vergessen ging. Sie sollen im Sortiment auch lokale Produzenten berücksichtigen.
Cluster gebildet
Nur 5 bis 10% des Angebots – Coca-Cola, Pasta oder Brotaufstrich etwa – kommen daher von grossen Marken. Der Rest, vom Käse über das Fleisch bis hin zum Joghurt, unterscheidet sich je nach Region. Um die Einkaufs- und Logistikkosten tief zu halten, werden mehrere, geografisch nahe zusammenliegende Comptoirs als sogenannte Cluster von denselben Produzenten beliefert. Dies erleichtere auch die Verhandlungen mit Dienstleistern wie der Post oder der Lottokommission Française des Jeux, die dem Comptoir für ihre Präsenz monatlich eine Gebühr bezahlten, erklärt Sylviane Barcet.
Die Idee eines Ladens, kombiniert mit Dienstleistungen und einem kleinen gastronomischen Angebot, kam bei den Bürgermeistern derart gut an, dass die beiden Unternehmerinnen sich vor Anfragen bald kaum retten konnten. Doch nicht jede Gemeinde kommt für das Konzept infrage: Sylviane Barcet, die für die Entwicklung zuständig ist, sagt, dass ein Einzugsgebiet von mindestens 2100 Personen Voraussetzung sei.
Aber auch die Nähe zu einer Schule oder zu einem Grossverteiler und der Durchgangsverkehr fallen bei den Marktstudien, die sie vorab erstellt, ins Gewicht. Zudem werden die Bewohner in Fragebögen nach ihren Bedürfnissen befragt. Der Laden in La Bauche sei insofern eine Ausnahme, als das Schloss ausserhalb des Dorfkerns liege, erklärt Barcet. Das sei ein Experiment. Wenn nicht gerade eine Pandemie herrsche, sei das voralpine Gebiet bei Wanderern und Tagestouristen beliebt.
Mit der Hilfe der Kommune
Eine Grundvoraussetzung sei zudem, dass der Bürgermeister einer Gemeinde zu 100% hinter der Idee stehe, nicht allein für die Kommunikation. Im Idealfall hat er bereits ein Lokal im Blick, erlässt die Miete oder hilft bei den Renovationsarbeiten: In La Bauche hat die Kommune etwa die Kosten dafür sowie die Miete für die ersten sechs Monate übernommen. Sie sei mit dem Projekt ein Risiko eingegangen, sagt die Bürgermeisterin Evelyne Labrude. Eine kleine Kommune wie ihre verfüge nur über sehr begrenzten finanziellen Spielraum. Sie lässt durchblicken, dass sie die Initiative der beiden Unternehmerinnen deutlich sinnvoller findet als die von der Regierung initiierten Projekte, um das Leben ausserhalb der Zentren zu erleichtern.
Nach den Protesten der Gelbwesten hat Paris die «Rückeroberung der ländlichen Gebiete» zu einer Priorität erklärt; unter anderem sollen staatliche Dienstleistungen, aber auch Banken und die Post dank sogenannten Maisons de France Service in die Regionen zurückgebracht werden. Labrude sagt, in ihrer Region merke sie davon bis jetzt nichts.
Drei Jahre nach der ersten Eröffnung haben die beiden Gründerinnen ein Gefühl dafür entwickelt, was die Erfolgschancen eines Ladens erhöht: Frisches Brot ist dafür genauso unerlässlich wie die Dienstleistungen der Post oder ein Paket-Depot. Auch die Lage an einer Durchgangsstrasse und Parkplätze sind von Vorteil. In der Regel dauere es zwei Jahre, bis ein Laden rentabel sei. Nicht bei allen habe es funktioniert, gibt Barcet zu. Der Umsatz von rund 250 000 € pro Jahr ist überschaubar.
Die Anwohner kommen zwar nicht für den grossen Wocheneinkauf, doch sie finden rund 150 Produkte im Sortiment. Die anhaltend hohe Nachfrage vonseiten der Gemeinden und die positiven Feedbacks der Kunden bestätigen die beiden Gründerinnen darin, dass ihre Geschäftsidee Bedürfnissen entgegenkommt – nicht zuletzt jenem des sozialen Austauschs. Die Dorfläden sollen auch die Möglichkeit für Weinproben oder Workshops bieten, wenn die epidemiologische Lage es wieder erlaubt.
Sozial und solidarisch
Barcet und Hils haben ihr Unternehmen der Gemeinnützigkeit und der demokratischen Organisation verpflichtet. Das sind die Grundvoraussetzungen, um als «soziales und solidarisches Unternehmen» den Zugang zu Finanzierungsquellen wie etwa der öffentlichen Investitionsbank BPI oder zahlreichen Stiftungen zu bekommen. Doch Barcet betont, dass bei beiden Finanzierungsrunden der grösste Anteil nicht von Banken oder Stiftungen, sondern von Privatpersonen gestemmt wurde.
Wenn es nach den Gründerinnen geht, soll ihr Unternehmen mit rund 40 Angestellten – viele von ihnen in Teilzeit – über den Grossraum Lyon hinaus Fuss fassen. Um dies zu erreichen, wollen sie neue Läden im Franchise-System betreiben. Laut Barcet soll Comptoir de Campagne, das 2019 einen Umsatz von etwas mehr als 1 Mio. € erzielte, bis spätestens 2023 schwarze Zahlen schreiben – mit dreimal so vielen Läden wie heute.